Preisfrage:
Wer kennt den Unterschied zwischen Legasthenie und
Lese-Rechtschreibstörung/Lese-Rechtschreibschwäche/Lese-Rechtschreibschwierigkeiten/LRS?
Niemand? Doch. In Bayern war die Unterscheidung bis zum 1. August 2016 klar. Laut
einer auf Schulrecht spezialisierten Anwaltskanzlei ist Bayern daher Spitze: „Bayern gehört im Bereich von Legasthenie und LRS sicher zu
den fortschrittlicheren Bundesländern“. Und weiter: „Ein
Problem ist sicher die Differenzierung zwischen einer Lese- und Lernstörung
(Legasthenie) und einer Lese- und Rechtschreibschwäche (Legasthenie)
hinsichtlich der Voraussetzungen und hieraus resultierenden Rechtsfolgen“. Das
Problem ist sicher auch die Differenziertheit von Juristen, die glauben,
zwischen Legasthenie und Legasthenie unterscheiden zu können. Nur die anderen
sind ein bisschen zurückgeblieben: „Andere Bundesländer nehmen diese Differenzierung
nicht vor, was den Nachweis erleichtert und Spitzfindigkeiten
vermeidet“. Bisher
wurde also in Bayern (und sicher auch hier und da an anderen Stellen in
Deutschland) zwischen einer Legasthenie (= Lese-Rechtschreibstörung, abgekürzt
LRS) und einer Lese-Rechtschreibschwäche (wiederum abgekürzt LRS)
unterschieden. Alles verschtanden?
Unterscheidung
Teil 1 in Bayern: Legasthenie ist angeboren, folglich Krankheit. Das Kind und
die Familie können nichts dafür und man kann das Problem nicht ursächlich
behandeln. Das Kind bleibt immer Legastheniker. Deshalb ist das Medizinsystem
verantwortlich für eine Therapie, verschreibt per Rezept Behandlungen der
Folgeerscheinungen, und das Land sorgt für gute Pädagogik und Erlasse zum
Nachteilsausgleich und für eine gerechte Benotung.
Es ist
gut, dass die Medizin das tut, denn erstens wird
„das Erkennen und die Feststellung der Legasthenie vor allem als Aufgabe der
Lehrer und Lehrerinnen angesehen [sic!], obwohl dies zum Fachgebiet der Kinder-
und Jugendpsychiater und damit in das Aufgabenfeld einer hoch spezialisierten,
medizinischen Berufsgruppe gehört“. Und zweitens: „Die Berücksichtigung der
Legasthenie und die Gewährung von Hilfen und anderer Bewertung stehen
überwiegend im Ermessen der Lehrer oder Klassenkonferenzen. Diese haben oft
eine große Scheu davor, Legasthenikern Hilfestellungen zu geben und
Ausnahmeregelungen zu gewähren, weil sie den Vorwurf fürchten, sie würden die
Legastheniker gegenüber anderen Schülern und Schülerinnen bevorzugen“ (Bundesverband Legasthenie (BVL) Elterninformationen 2007). Die Kinder- und Jugendpsychiater (warum eigentlich nicht Psychologen
oder Ärzte anderer Fachgebiete?) sind also objektiv und kompetent in der
Diagnostik und unbeeinflusst von pädagogischen Unsicherheiten und elterlichen
Einflüssen. Abgesehen davon, dass die Testungen in den Praxen und Abteilungen
der Kinder- und Jugendpsychiatrie meistens von Psychologen durchgeführt werden,
die dafür ja auch ausgebildet wurden.
Unterscheidung Teil 2 in Bayern: Alles
andere sind dann Lese-Rechtschreibstörung/Lese-Rechtschreibschwäche/Lese-Rechtschreibschwierigkeiten/LRS.
Das sind die Kinder, deren Legasthenie/LRS & Co. nicht genetisch bedingt
ist, also der riesige Berg an möglichen Ursachen oder Komorbiditäten:
Nicht-lernförderliches Umfeld, schwache, aber noch normale Begabung,
Lernschwierigkeiten mit Aufmerksamkeitsproblemen, ungenügende pädagogische
Bedingungen, seelische Belastungen des Kindes oder der Familie usw., kurz: wenn
die Gesellschaft, die Familie und/oder die Lehrer suboptimal bleiben. In diesem
Fall kann das Lernproblem ja angegangen werden, ist veränderbar und sonderbarerweise
nun primär Aufgabe der Pädagogik (und des Sozialsystems). Kein Rezept also.
In der
internationalen Forschung geht man davon aus, dass weltweit 5-7% aller Kinder
ein signifikantes Problem im Erlernen von Schreiben und/oder Lesen haben. Manchmal
wird diese Zahl als genetisch bedingte Legasthenie interpretiert. In
Deutschland erreichen aber 20% der Kinder am Ende der ersten und der zweiten
Grundschulklasse in normierten Schreib- und Lesetests nicht den Normbereich. Und
wie wird nun zwischen veranlagungsbedingter und umgebungsbedingter
Lernproblematik unterschieden, und wer macht das? In Bayern ist das in erster
Linie die Kinder- und Jugendpsychiatrie: Sie nimmt der Pädagogik und den Schulpsychologen
die heikle Arbeit ab. Der „krankheitsbedingt gewährte Nachteilsausgleich und
Notenschutz“ tritt dann automatisch in Kraft und die Pädagogen haben klare
Vorgaben und sind aus dem elterlichen Schussfeld.
Jeder,
der Kinder mit Schwierigkeiten im Schreib- und Leseerwerb gefördert und
behandelt und Eltern beraten hat, weiß aber, dass man zu Beginn dieses
Prozesses nur Berichte und Ergebnisse von Tests und ein subjektives Bild vom
Kind hat. Erst im weiteren Verlauf entscheidet sich, ob der Lernprozess schnell
oder sehr langsam oder gar nicht in Gang kommt. Jeder hat Kinder und Eltern
gesehen, die tief verunsichert, bedrückt und beschämt waren, sehr schlaue und
weniger schlaue, sehr gut erzogene und ungezogene, depressive und aggressive,
mit guten oder schlechten didaktischen Voraussetzungen in der Schule. Aber fast
nie kann man zu Beginn verlässlich voraussehen, wie der weitere Verlauf sein
wird. Ein völlig deprimiertes Kind kann innerhalb weniger Wochen wieder zuversichtlich
werden und überraschende Lernfortschritte zeigen. Das gut eingebundene Kind
hingegen mit der tollsten elterlichen Unterstützung und der besten Motivation
kommt hingegen nicht vom Fleck. Wer will da in der Lage sein, zwischen
Legasthenie und Lese-Rechtschreibstörung zu unterscheiden. Und ist nicht der
Unterschied zwischen „Störung“ und „Schwäche“ manchmal ein verbaler Ausdruck
von moralischer Korrektheit und manchmal ein Ausdruck von statistischer
Unterscheidung zwischen Prozentrang 15 und Prozentrang 25?
Ich
sehe sehr wohl, dass es sehr viele Kinder gibt, deren Lernproblem genetisch
bedingt ist. Es wäre auch Unsinn, die riesige Zahl an wissenschaftlichen Belegen aus der Genetik und den
Neurowissenschaften zu leugnen. Sonst müsste man die Schwierigkeit der
Unterscheidung dazu nutzen, das Kind mit dem Bade bzw. der Tinte auszuschütten
und die Existenz der Legasthenie gleich rundweg zu leugnen, wie es
beispielsweise Renate Valtin tut (Brauchen wir Legasthenie?,
1999): „Das
Legasthenie-Konzept ist theoretisch, methodisch und diagnostisch nicht
sinnvoll“.
Wie wird denn eine Lese-Rechtschreibstörung
außerhalb Bayerns definiert? Darüber gibt die evidenz-
und konsensbasierte Leitlinie (AWMF) (Deutsche Gesellschaft für
Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zusammen mit
anderen Fachgesellschaften) Auskunft: „Die Lese-Rechtschreibstörung, isolierte
Rechtschreibstörung oder isolierte Lesestörung basiert auf der Diskrepanz
zwischen dem Lese- und / oder Rechtschreibniveau und der Altersnorm, oder der
Klassennorm oder der Intelligenz. Die Diskrepanz sollte anderthalb
Standardabweichungen (1,5 SD) betragen und die Leistung in den einzelnen
Lernbereichen sollte mindestens unterhalb des Durchschnittsbereichs liegen.“
Das ist die herkömmliche Diskrepanzdefinition. Keine Rede also von einer
Unterscheidung zwischen Legasthenie und Lese-Rechtschreibstörung oder
–schwäche. Immerhin gesteht sie einen gewissen Verhandlungsspielraum zu: „Wenn
die Lese-und /oder Rechtschreibschwierigkeiten durch Evidenz aus der klinischen
Untersuchung und den Ergebnissen der psychometrischen Verfahren belegt werden,
kann ein weniger strenger Grenzwert herangezogen werden (ab 1,0 SD unter dem
Durchschnitt der Klassennorm oder der Altersnorm oder dem aufgrund der
Intelligenz zu erwartenden Leistungsniveau im Lesen und/oder Rechtschreiben)“. Im gleichen Sinne definiert
der Bayrische
Landesverband Legasthenie und Dykalkulie (LVL)
(„Grundlegendes über die Lese-Rechtschreibstörung“): „Eine Legasthenie beschreibt eine erhebliche Beeinträchtigung in
der Lese- und Rechtschreibfertigkeit, die nicht Folge von
intellektuellen Einschränkungen, einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung,
unkorrigierter Seh- oder Hörstörungen, einer unzureichenden Beschulung sowie psychischer,
neurologischer oder motorischer Störungen ist“.
Immerhin muss man der
bayrischen Regelung zusprechen, dass wohl die meisten mit ihr sehr zufrieden
waren. „Dabei
war das Thema in der Vergangenheit für alle Beteiligten gut geregelt. Grundlage
war ein verlässliches Verfahren. Die Eltern waren entsprechend vorbereitet und die Schulleiter/innen wussten
genau, was sie zu tun hatten“, sagt Simone
Fleischmann, die Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und
Lehrerinnenverbandes (BLLV), in einem Interview.
Nun
kam die Rolle rückwärts: Am 1. August 2016 trat in Bayern eine Neuregelung für
Kinder mit Lese- und Rechtschreibstörung, kurz LRS genannt, in Kraft. Das löste
laut dem Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) „Ärger und Unsicherheit“
aus. Nun sollen die Schulpsychologen
und die Schulleitungen regeln, was früher in der Hand von ärztlichen Fachleuten
lag, nun „kommt es an den Schulen zur Verwirrung“. Experten fordern ein „verlässliches
Verfahren“. Was ändert sich jetzt und warum der Ärger?
1. Über
die Gewährung eines Notenschutzes oder
Nachteilsausgleichs entscheidet
jetzt die Schulleitung. Eltern
müssen bei der Schulleitung einen formlosen Antrag für einen Nachteilsausgleich
oder Notenschutz stellen. Grundlage für diesen Bescheid sind eine
Schulpsychologische Stellungnahme, Beratung durch BL, MSD, Schülerbeobachtung.
2. Die
bisherige Unterscheidung
zwischen Lese-Rechtschreib-Schwäche und
Lese-Rechtschreib-Störung (Legasthenie) entfällt. Voraussetzung für die Anerkennung einer Lese-Störung,
Rechtschreib-Störung oder Lese-Rechtschreib-Störung ist wahlweise:
a) ein Gutachten von einem Kinder- und
Jugendpsychiater oder weiteren anerkannter Stellen. Diese muss wie
bisher einem Schulpsychologen zur Überprüfung vorgelegt werden,
b) eine Schulpsychologische Stellungnahme.
3. Es
wird zukünftig zwischen individueller
Förderung, Nachteilsausgleich
und Notenschutz unterschieden.
Notenschutz ist immer dann notwendig, wenn der Leistungsinhalt (festgelegt im
Lehrplan oder Schulordnungen) betroffen ist. Der Nachteilsausgleich betrifft
die Leistungsform, die Art einer zu erbringenden Leistungserhebung.
Neu
ist die Möglichkeit, dass Eltern sich ausschließlich an den Schulpsychologen
wenden können, auch ohne vorher den Kinder- und Jugendpsychiater konsultiert zu
haben. Der Schulpsychologe führt für den schulischen Bedarf die Diagnostik
durch, berät die Eltern im Hinblick auf sinnvolle Maßnahmen und stellt bei Bedarf
eine schulpsychologische Stellungnahme für die Schule aus.
Die Reaktionen fasst Frau Fleischmann vom BLLV so zusammen:
„Seit vergangenem Sommer ist alles anders. Kompliziert und leider auch
bürokratisch. Außerdem wird der krankheitsbedingt gewährte Nachteilsausgleich
und Notenschutz nicht mehr wie früher automatisch gewährt. Die letztendliche
Entscheidung liegt nun bei der Schulleitung.“ Und die Vorsitzende des
Bundesverbandes für Legasthenie und Dyskalkulie, Christine Sczygiel: „Auch die
Familien sind nun deutlich mehr belastet“. Weil der bisher krankheitsbedingt [Sic:
Legasthenie ist eine Krankheit] gewährte Nachteilsausgleich und Notenschutz
nicht mehr automatisch gewährt werden, seien viele Eltern gezwungen, mit
privaten Mitteln und Ressourcen nachhaltige Unterstützung für ihre Kinder
zu schaffen. „Wer sich das nicht leisten kann, ist eben auch nicht in der Lage,
seinem Kind die Förderung zu geben, die es bräuchte“, kritisierte sie.
Zusammengefasst gibt es also in Bayern
1.
Eine
Veränderung in der Zuständigkeit: Weniger Kinder- und Jugendpsychiatrie, mehr
Schulpsychologie und Pädagogik. Das wäre ja hinsichtlich schulischer
Lernprobleme auch konsequent. Eine fachärztliche Betreuung wegen psychischer
Störungen, die bei den Kindern primär bestanden oder sekundär entstehen, bleibt
davon ja unbenommen. Eltern haben weiterhin die
Möglichkeit ihr Kind vom Kinder- und Jugendpsychiater untersuchen zu lassen.
Das Gutachten geht dann aber zunächst an die Schulpsychologen und/oder die
Schulleitung.
2.
Eine
Veränderung in der Terminologie: Legasthenie ist bis auf weiteres gleich
Lese-Rechtschreibstörung, -schwäche oder-schwierigkeit, mit unterschiedlichen
Mischungen aus zahlreichen Ursachen. So wie es überall in Deutschland sein
sollte. Und das ist gut so. Wegen der Unzulänglichkeiten der
Diskrepanzdefinition ist jedoch davon auszugehen, dass wir bald eine neue
Definition lernen müssen.
3.
Eine
drohende Verschlechterung in der Förderung der Kinder mit LRS in Bayern. Das
wäre schlecht. Oder wollte die Politik im fortschrittlichen Freistaat wohl
Kosten sparen?
4. Eine Veränderung im Nachteilsausgleich
und/oder Notenschutz. Aber da gibt es in jedem Bundesland und in Landkreisen und
Kommunen sehr unterschiedliche Interpretation von Unterstützungsbedarf und
Gewährung von Hilfen. Ende offen.
Positiv gesehen: Es wird
wieder darüber nachgedacht, warum es in Deutschland unterschiedliche
Bezeichnungen und Beschreibungen einer Lernstörung gibt. Warum muss ein
Lernproblem, das bei vielen Kindern eine genetische Ursache hat und zumindest
in Forschungsprojekten Abweichungen von der Norm in zahlreichen Hirnfunktionen
(u.a. in der Sprachentwicklung) haben kann, eine Krankheit sein? Aber auch dann,
wenn es eine Krankheit wäre, manifestiert sie sich erst beim schulischen
Lernen. Legasthenie „gehört“ damit nicht primär den Medizinern, Pädagogen oder
Psychologen, sondern ist eine Herausforderung an ein Netzwerk mit
gleichberechtigter Zusammenarbeit. Dagegen spricht auch nicht, dass mancherorts
Ärzte und Pädagogen in der Betreuung und Förderung der Kinder nicht fit sind.
Dann müssen sie es halt lernen. Schließlich legt der bayrische Salto rückwärts auch
an, über die föderale Vielfalt nachzudenken. Falls Kinder aus sozial schlechter
gestellten Familien im Zuge dieser „Neuregelung“ benachteiligt würden, wäre das
ein fatales Signal. Was wäre denn für die betroffenen Kinder am besten?
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